Retour à la Normale

Der Titel RETOUR A LA NORMALE scheint auf der Karte mit Fragezeichen nicht nur versehen, sondern dekoriert. Es sind drei, aber es könnten noch mehr Fragezeichen sein. Die „ungelösten Probleme“, „die Chancen und Risiken“, der „Sinn“ und der „Unsinn“, die „imaginären Verstrickungen“ sind keine Punkte, um die sich ein Text kristallisiert. Die Zeilen, in denen sie auftauchen, scheinen vielmehr bewegt oder von Michael Hauffen eingesetzt wie das, was Michel Foucault anführt als „Kavalkaden“, Reiteraufzüge. Das, was man Sinn und Form genannt hat, tritt in deren Vorüberzug souverän in Erscheinung. Ob der Sinn die Form dominiert, einsetzt oder erhellt? Ob die Form den Sinn begrenzt, verbirgt oder enthüllt? Die Erscheinung oder die Ausstellung demonstriert beides. Demonstratio heißt bei Spinoza Beweis. Dieser Beweis muss erbracht werden, und er muss unabhängig sein von dem, der ihn erbringt.

Die Titel, die Michael Hauffen seinen Bildern gibt, verweisen auf diese Spannung. Es fällt auf, dass nur Protostruktur (Konzentration) von 2000 und Protostruktur (Intensität) von 2001 in den eingeklammerten Untertiteln Psychologisches anklingen lassen. Grenzwerttheorie von 2017 ist dagegen allgemein wissenschaftlich, Dekomposition von 2016 allgemein formal, Präparat von 2019 biologisch, Autopsie von 2018 medizinisch, Überschuss von 2019, wenn man so will, ökonomisch und die Verschiebung der Blickachse von 2019 genauso subjektiv wie geometrisch. Auch auf der Karte ist die Rede von einer „Geometrie der (Massen-)Affekte“.

Ob man ein Bild verstehen kann oder nur lesen, ist eine offene Frage. Sicher aber muss man es lesen, um es verstehen zu können. Es gibt aber keinen Text ohne Lücken, über die die Lektüre springen muss, ohne den Faden zu verlieren. Diesen Faden hat man noch nicht beim ersten Lesen. Michael Hauffens Bild Verschiebung der Blickachse zeigt eine schwarz durchbrochene Struktur, die wie ein Dia zwischen Weiß und Schwarz geschoben ist. Rechts davon ist dieses Schwarz hart abgegrenzt gegen ein weiteres Weiß. Die Blickachse bleibt doch stehen in dem Bereich, in dem die Struktur mit dem Durchbruch eine Grenze verbirgt. Kant würde von einem stehenden und bleibenden Ich sprechen. Oder das vermeintliche Dia erweist sich als Körper, der aus der Entfernung wie ein gerastertes Auge erscheint.

An dieser Stelle greift die Lektüre zurück, um ihren Faden weiterspinnen zu können. In seinem Werk L´Architecture considérée sous le rapport de l´art, des moeurs et de la législation, Die Architektur im Hinblick auf die Kunst, die Sitten und die Gesetzgebung, dessen erster und einziger Band 1804 erschien, bildet der Architekt Claude-Nicolas Ledoux eine Grafik ab, die ein einzelnes Auge zeigt, in dem sich scheinbar der Zuschauerraum des Theaters von Besançon befindet. Das Auge und der Raum, der Schauspieler und das Publikum bilden zusammen ein Modell. Man kann an Francis Bacons „Idols of the Theatre“ denken und an Michael Hauffens „Geometrie der (Massen-)Affekte“. Und der Augapfel ist noch größerem vergleichbar als dem Rund des Theaters, etwa einem Globus. Aber Ledoux´ Theater ist leer. Und in den Star Wars von George Lucas erscheint der Todesstern zuerst „under construction“.


Claude-Nicolas Ledoux

Diese Leere und diese Konstruktion weisen zurück auf die Bilder von Michael Hauffen. Auch abgesehen von Körpern, die man hineinsehen kann, ist jedes Bild in der Ausstellung RETOUR A LA NORMALE von einem Geflecht überzogen, das Michael Hauffen nicht als Schema, sondern als Körper zeigt. Man kann an Stangen denken wie von einem Gerüst oder an Rohre, die die Oberfläche vergrößern, an denen ein Austausch von Wärme geschieht. Hauffen selbst weist auf ein Gewebe hin, das abgewetzt, „fadenscheinig“ sein kann. Das Gitter besteht aus Senkrechten und Waagrechten, die nicht immer gerade sind, nicht immer regelmäßig geordnet, oft überlagert oder durchbrochen. Die Zwischenräume sind mit verschiedenen Farben gefüllt, die die Einheit des Grundes negieren oder ins Flimmern bringen. Und kein Bild der Ausstellung RETOUR A LA NORMALE ist gleich groß. So wie zum einen wohl individuelle Affekte, zum anderen Massenaffekte genannt sind, geht es um jeweilige Bilder auch dann, wenn die Struktur, die sich durch alle zieht, auf den ersten Blick langweilig scheint.

Diese Verbindung, in der ein gleichförmiger Aufbau umschlägt in ein Gebilde, das dennoch besonders ist, hat Alois Riegl 1901 im Hinblick auf die späte Antike als „Massenkomposition“ beschrieben. Diese Form kann in einem Schmuckstück auftreten und in einem Grundriss, in der Kunstindustrie und in der Kunst. Riegl kennzeichnet diese Struktur formal als „Muster auf bewegtem Grunde“. Der Grund kann bewegt heißen, wenn er das, was ihm auferlegt wird, nicht nur erleidet. Es spricht für sich, dass Riegl das Ende der Antike nur am Rande festmacht am Untergang des römischen Reiches, zentral aber daran, dass in einem Relief am Sarkophag einer Tochter Konstantins der Grund nicht mehr als Fläche, sondern als Raum erscheint.

An ihrer Oberfläche können die Bilder von Michael Hauffen als modernistisch gelesen werden. RETOUR A LA NORMALE heißt dann nur, dass eine Bildform sich wiederholt. In den Bildern von Michael Hauffen aber wird diese Form nicht nur beherrscht, sondern durchbrochen. Dieses Geschehen im Bild ist einem wirklichen Ereignis vergleichbar. RETOUR A LA NORMALE heißt zu finden, was Kunst immer war, die Erzählung von dem, was wirklich geschieht.

Berthold Reiß

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