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Dirk Baecker - Wozu Kultur?


Ging es im Altertum bei „cultura” noch allein um die Pflege und den Schutz ewiger Werte oder Güter, so hat sich mit der Moderne und mit dem Beginn ihres dynamischen Zeitbegriffs die Frage nach der Kultur zu einer Technik der Identitätssuche entwickelt. Was zuvor eine Frage der Verehrung war, ist nun zu einem Topos von Vergleichen geworden, und aus einer Angelegenheit, die letztlich von Priestern entschieden werden musste, wurde eine Angelegenheit von Intellektuellen, die nun Glück und Unglück der Menschen auf der Basis rationaler Gründe zu bestimmen beanspruchten. Heute hat sich die Gruppe derer, die sich für Kultur zuständig erklären, nochmals um Kulturpolitiker und Kulturmanager erweitert, und mit Begriffen wie Lifestyle oder Benutzeroberfläche wird schließlich immer wahrscheinlicher, dass Kultur ein ebenso ausgedehntes wie unüberschaubares Geflecht von Phänomenen impliziert. So gesehen bereitet es dann nur noch wenig Schwierigkeiten, die Einschätzung Luhmanns nachzuvollziehen, dass „der Terminus Kultur einer der schlimmsten Begriffe ist, die jemals gebildet worden sind.”
Dirk Baecker greift diesen Verdacht auf, wenn er seinem Buch zum Thema einen Titel gibt, der sowohl den Sinn des Kulturbegriffs, wie auch den der kulturellen Praxis in Frage stellt. Indem er in seiner Reihe von Aufsätzen – ganz in der Tradition der Kulturwissenschaften – wechselnde Perspektiven einnimmt, entfaltet er ein Panorama von Konzepten und Strategien, und bestärkt die systemtheoretisch fundierte Vermutung, dass dessen verschiedene Fragmente eine gemeinsame Struktur aufzuweisen.
Charakteristisch dafür ist der prekäre Status, den jeder Akteur, Beobachter oder jede Organisation einnimmt, der oder die sich auf Kultur beruft. Wo es zunächst darum geht, das Eigene gegen das Fremde abzugrenzen, also eine kulturelle Identität zu konstruieren und zu behaupten, spielt das Fremde eine konstitutive Rolle, muss also als Eigenes mitgeführt und zugleich ausgeblendet werden. Und diese Logik des blinden Flecks ist auch von Kulturkritik oder all jenen Versuchen der Grenzüberschreitung, die besonders in der Avantgarde eine wichtige Rolle spielen, nicht zu umgehen, da deren Voraussetzung selbst wieder die Kultur ist, gegen die sie sich abzuheben versuchen. Sie scheinen ihr vielmehr erst die zu ihrer Konstituierung notwendige Ebene einer möglichen Diskontinuität gesellschaftlicher Entscheidungsvorgaben zu liefern und sie damit eher zu tragen als zu überwinden.
Während sich also die Hoffnung auf die Wirkung radikaler Gesten enttäuscht sehen muss, steigen auf der anderen Seite die Chancen für eine gesellschaftliche Etablierung der Kultur als Mittel gegen die Gefahr nackter Gewalt, die immer dann akut wird, wenn alle anderen Optionen der Aufrechterhaltung einer sozialen Konstruktion erschöpft sind. Dem absoluten Ernstfall stellt die Kultur eine prinzipielle Mehrdeutigkeit von Ereignissen, und die sich daraus ableitenden Möglichkeitsspielräume entgegen. Sie bildet einen vielfältigen Kontext, der durch eine eigenwillige Gesetzlichkeit gekennzeichnet ist. Man entnimmt ihr etwa alternative Orientierungen, um die starren Schemata moderner Organisationen und die Begrenztheiten der sozialen Funktionssysteme, wie Politik, Recht, Wirtschaft relativieren zu können, bleibt dabei jedoch immer in der Gefahr, die Basis der Verständigung zu verlieren. Die Folge ist jene typische Unruhe moderner und postmoderner Zeitgenossen, die allerdings Bedingung für den reflexiven und kreativen Umgang mit heutiger Komplexität zu sein scheint.
Damit erreicht die Systemtheorie einen Punkt, an dem die von ihr beschriebene Funktion der Kultur sogar dem nahe zu kommen scheint, was Derrida mit seinem Plädoyer für das Unmögliche und das Andere, oder Boris Groys mit seiner Phänomenologie des Verdachts beabsichtigt haben könnten.
Dem solchermaßen emphatischen Sinn der Kultur gegenüber steht allerdings ein Sicherheits- und Selbstbehauptungsbedürfnis sozialer Institutionen und Instanzen, die dazu tendieren, Kultur auf die Funktion einer Qualitätskontrolle zu reduzieren, deren Kriterien sie intern bestimmen können. In diesen Sphären verdichtet sich eine Regelvorstellung von Normalität, die die Kultur eher abbremst, und kreative Spielräume generell abwertet und zu begrenzen versucht.
In der Kunst zeigt sich dieses Spannungsfeld etwa zwischen den Polen eines Strebens nach der spezialisierten Autonomie einer Disziplin, die sich auf spektakuläre Zeichen beschränkt, und einem „kriegerischen” Umgang mit den Codes der Gesellschaft und ihren Systemen, der sich nicht in bloßer Kritik erschöpft. „Die einen sind typischerweise an »Identität« interessiert. Sie machen sich Sorgen um Redundanz, nicht um Varietät. [...] Die anderen hingegen sind typischerweise an »Differenz« interessiert, und machen sich um Varietät, nicht um Redundanz Sorgen. Sie wissen, daß das Rauschen die einzige Quelle des Neuen ist und tun alles, um dort, wo Erstere sich auf Rekursionen verlassen, Iterationen einzuführen, die zwar auch anknüpfen, aber deswegen nicht auch unbedingt zurückführen.”
Ohne ihre kulturelle Bedeutung, wäre die Kunst aber für die Gesellschaft so gut wie nicht existent. Auch sie braucht eine Benutzeroberfläche und einen kulturell codierten Stil mit enttäuschungsfesten Inhalten. Letztlich geht es also darum, die in Form von Kultur aus der postmodernen Gesellschaft kaum mehr wegzudenkende Offenheit für die Möglichkeiten der Gegenwart mit einem gewissen Witz zu verteidigen und zu bestärken.
Auf Luhmann geht die Auffassung von einer Gegenwart zurück, die sich als Daueraktualität etabliert. In ihr wären vergangene Entscheidungen und Zukunftsprojekte so wenig lähmend wie Mythologien und Ideologien. Vielleicht braucht es erst eine gute Kulturtheorie um zu erkennen, dass wir in der Kultur, so paradox sie funktioniert, bereits ein Mittel besitzen, an dieser Freisetzung der Potentiale moderner Gesellschaft zu arbeiten.


Dirk Baecker, Wozu Kultur? Kadmos Verlag, Berlin 2000. 191 Seiten, DM 29,80.

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Michael Hauffen

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