Text

Thomas Dreher - Performance Art nach 1945


Performance Art übt heute nicht mehr die Faszination aus, mit der sie einmal in der Lage war, Maßstäbe zu setzen. Neben dem Wiedererstarken des Glaubens an handfeste Kunstobjekte, der ein verändertes Verhältnis zu sozialen Experimenten und ein zunehmendes Bedürfnis nach Normalität anzeigt, spielt hier sicher auch eine Rolle, dass die physische Gegenwart von KünstlerInnen und Publikum als Garant für Authentizität und Echtheit im Zuge medienkritischer und dekonstruktiv beeinflusster Debatten zunehmend problematisch wurde. Aber es hieße Performance Art auf ihre konventionalisierte Spätform zu reduzieren, wenn man in ihr nur eine Form körperzentrierter Selbstpräsentation sehen wollten. Sobald man die vielfältigen Spielarten, die ihre Entwicklung bestimmt haben, als differenziertes Netzwerk begreift und in ihren historischen Kontext zurückversetzt, ergibt sich ein wesentlich spannenderes Bild der von ihr ausgehenden Impulse auf das aktuelle Kunstgeschehen.
Vielleicht kommt Thomas Drehers kunsttheoretische Aufarbeitung genau zum richtigen Zeitpunkt. Während es ihm im Laufe seiner umfangreichen Recherchen etwa noch möglich war, mit „dem” Pionier dieser Kunstform, Victor Burgin, per Fax eine Reihe von Details persönlich zu klären, sind andererseits die einzelnen Ansätze und ihre Erweiterungsmöglichkeiten inzwischen weit genug ausbuchstabiert, um sie aus der Distanz zu betrachten, zu ordnen und sich an einer ernsthaften historischen Einschätzung zu versuchen.
Das bedeutet allerdings nicht, ein Phänomen zu isolieren und aufs kunsthistorische Abstellgleis zu schieben. Ganz im Gegenteil zeigt sich in Drehers Rekonstruktion von Anfang an, dass er ein ästhetisches Potential, das von der weiteren Entwicklung verdrängt zu werden droht, durch gründliche Wiederbeschreibung für aktuelle ästhetische Strategien und Diskurse anschlussfähig machen kann. Methodisch bedient er sich dabei systemtheoretischer Konzepte, was ihm vor allem erlaubt, jene stereotypen Interpretationen subjektbasierten Typs hinter sich zu lassen, die zur Ermüdung in Bezug auf die davon betroffenen Arbeitsweisen viel beigetragen haben dürften. Er überschreitet dabei aber auch den engen Rahmen, in dem sich die Systemtheorie des Niklas Luhmann angesichts der Kunst nahezu ausschließlich bewegt. Luhmanns Wahrnehmung scheint Kunstformen polykontexturalen Typs mehr oder weniger generell ausgefiltert zu haben, was normative Vorstellungen vom Kunstsystem zwar zu bekräftigen scheint, aber die Reichweite seiner theoretischen Konzepte bis hin zu systemtranszendierenden Phänomenen nicht unbedingt verhindert.
Die von einer solchen Warte aus mögliche Kritik traditioneller Theorieansätze, vor allem die des Modernismus, wird exemplarisch an der platonisch inspirierten Kunsttheorie des späten A. C. Danto durchgeführt, der die Performance Art als neben- bzw. untergeordnetes Versuchsfeld für einen Entwicklungsstrom einstuft, der auf die Malerei als sein zentrales Medium zwangsläufig immer wieder zurückführen muss. Demgegenüber insistiert Dreher zu Recht auf der Überlegenheit einer Kunstform, die den Betrachter nicht wie beim Tafelbild grundsätzlich ausschließt, und umgekehrt das Kunstwerk auch nicht in sein exklusives Reservat verweist, sondern Partizipation auf mehreren gleichrangigen Ebenen vorsieht, womit der Prozess der Aneignung zum integralen Bestandteil eines offenen Geschehens werden kann. Dieser komplexe Prozess wird über einen systemischen Begriff von Beobachtung aus wechselnden Perspektiven nachvollzogen. Unterschieden wird die Beobachtungsoperation, durch die der jeweilige Zugang zu einem Werk und seinen Bestandteilen hergestellt wird, von der Beobachteroperation als der parallelen gedanklichen Verarbeitung. Nur Kunstformen, die beide Operationen einbeziehen, so argumentiert Dreher, geben dem Publikum die Möglichkeit, die Konstruiertheit ästhetischer Wahrnehmung mitzureflektieren, und sich von vorgeschriebenen Interpretationsschemata zu emanzipieren – freilich um den Preis der Aufgabe jener fetischhaften Illusion unbezweifelbarer Ideen, die im Kunstwerk authentisch zum Ausdruck kämen. Als Ersatz dafür bietet sich nun die Kunst als Feld erhöhter Irritation an, dessen kommunikative Ausgestaltung die Betrachter als aktive Teilnehmer mit bestimmen.
Als wesentlichen Faktor für diese Art von ausdrücklicher Kooperation identifiziert Dreher das, was er mit „Intermedia” bezeichnet, nämlich die Kombination mehrerer Medien, die ein Wahrnehmungsfeld konstituieren, in dem sich der Betrachter bewegt, und das seine Beobachtungsentscheidungen immer wieder herausfordert. Konsequenterweise schließt Drehers Begriff von Performance Art die Kunstströmungen des Happening, Aktionstheater, Fluxus und Closed-Circuit-Videoinstallationen in die Betrachtung mit ein und verlängert die Linie bis hin zu aktuellen Phänomenen interaktiver und computergestützter Kunst.
Zweifellos hätte man hier auch andere Strategien mit einbeziehen können, vor allem solche, die multi-mediale Machtstrukturen über die Grenzen des Kunstfeldes hinaus zu irritieren versuchen. Intermedialität wäre so gesehen nur eine Etappe der Avantgarde auf dem Weg zu systemübergreifender, polyrythmischer Aktivität gewesen. Wie auch immer man das entscheiden mag, positiv muss an Drehers Arbeit bewertet werden, dass der komplexe kunstspezifische Hintergrund für derlei Grenzgänge herausgearbeitet wird, und in dieser Hinsicht kann das Buch als beispielhaft gelten. Die Fülle des Materials steht dabei in dichter Verbindung zu seiner theoretischen Reflexion, so dass sowohl die Interpretation einzelner Werke oder Werkkonzepte als auch die Kunsttheorie selbst auf eine neue Basis gestellt werden.

Thomas Dreher, Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia. 543 Seiten, DM 108,-. Band 3 der drei Bände umfassenden Reihe: Das Problempotential der Nachkriegsavantgarden. Grenzgänge in Literatur, Kunst und Medien. Verlag Wilhelm Fink, München 2001

Newsletter

Michael Hauffen

derzeit noch nicht aktiv, bitte versuchen Sie es später wieder