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Dirk Baecker – Wozu Soziologie?


Mit dem starken Interesse an den Möglichkeiten gesellschaftlicher Umwälzung, das zu Zeiten der Studentenrevolte vorhanden war, scheint sich auch das Interesse an soziologischer Theorie wieder verflüchtigt zu haben. Muss man das als Rückschritt sehen, oder zeigt diese Verschiebung auch eine Weiterentwicklung im Sinne eines Lernprozessen an, der den damaligen Motiven entspricht?
Dirk Baecker erklärt die heutige Situation damit, dass wir uns inzwischen mit der Soziologie auf Augenhöhe befinden. Die soziologische Perspektive ist zum integralen Bestandteil modernen Lebens geworden und hat damit zwar die Faszination souveräner Weitsicht eingebüßt, betrachtet es aber auch nicht mehr als Herablassung, sich mit konkreten Phänomenen abzugeben, die sie möglicherweise zwingen, ihre kühnen Konstrukte zu revidieren. Da wir uns heute alle, wie Bruno Latour feststellt, in einem kollektiven sozialen Experiment befinden, gilt für Soziologen, wie für Experten im Allgemeinen, dass es keinen übergeordneten Blickpunkt auf eine Welt geben kann, die von allen Beteiligten im Bewusstsein mitgestaltet wird, dass man sich zunehmend auf riskante Entscheidungen einlässt, und somit auch für die Folgen nicht andere, die es vermeintlich besser gewusst haben müssten, verantwortlich machen kann.
Welche Rolle ergibt sich daraus für eine zeitgemäße Soziologie? Vielleicht ist schon an Dirk Baeckers Vorgehensweise in Bezug auf seine Veröffentlichungen, dass er nämlich zumeist kurze Texte zu den verschiedensten Themen publiziert, und diese dann von Zeit zu Zeit in Sammelbänden zusammenfasst, ein Ausdruck für seine Version, mit dem Problem umzugehen. Dieser Tendenz zum Essayistischen steht jedoch mit dem permanenten Bezug aller seiner Ausführungen auf die Systemtheorie von Niklas Luhmann auch ein massiver „systematischer” Anspruch gegenüber.
Luhmann steht sogar unter Verdacht, eine neue Metatheorie, wenn nicht gar ein System technokratischer Absicherung des Status Quo intendiert zu haben. Umso überraschender ist da die Feststellung Baeckers, dass es sich hierbei um eine Theorie handelt, die vor allem der Dekonstruktion Derridas oder der Epistemologie Foucaults nahe steht. Den Nachweis führt Baecker anhand von Luhmanns Organisationstheorie, die sich nicht dem bloßen Funktionieren, sondern dem Paradox inhärenter Unvereinbarkeiten als Basis dieses Funktionierens verschrieben hat.
Ähnliche Paradoxien scheinen sich in allen gesellschaftlichen Bereichen finden zu lassen, sobald man nur etwas genauer hinsieht, und sich nicht von den offiziellen Selbstdarstellungen blenden lässt. Das gilt nicht nur für die Bürokratie, die dazu neigt, ihre Funktionen als Selbstverständlichkeit darzustellen, da die Thematisierung ihres Zustandekommens „Interessen offen legen müsste, die in diesem Moment um ihre Durchsetzbarkeit fürchten müssten,” und damit eine Form der Problemlösung, an der nicht nur die Bürokratie selbst interessiert sein kann, gefährden würde.
Andere Beispiele, mit denen sich Baecker befasst, sind die Frage, warum Frauen so selten in Spitzenpositionen zu finden sind, oder warum Geld Unruhe schafft. Überraschend oft finden sich Fragestellungen, die den Bereich der Kunst betreffen: Ob es denkbar ist, dass elektronische Musik weniger etwas zu hören gibt, als das Hören selbst darzustellen; welches Interesse Wirtschaft und Kunst jeweils am Anderen haben könnten; oder wie sich der Wert von Kunstwerken konstituiert.
Was sich insgesamt herausschält, ist die zunehmende Gewissheit, dass sich mit den hier angewendeten Methoden auch vertrackte soziale Zusammenhänge aufklären und in einem neuen Licht sehen lassen. Und wie sich immer wieder herausstellt, sind alle sozialen Phänomene letztlich vertrackt. Mit vorgefassten Urteilen kommt man da nicht weit, weshalb sich die Stärke dieser Theorien immer erst dann erweist, wenn man sie aufs Spiel setzt. Darin sind sie übrigens auch künstlerischen Strategien verwandt, die nur in dem Maß funktionieren, wie es ihnen gelingt, jede vorgegebene Funktion des Kunstwerks zurückzuweisen.

Dirk Baecker: Wozu Soziologie? Kadmos Verlag, Berlin 2004, 24,50 Euro.

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Michael Hauffen

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