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Immer wieder den Raum komplett leer haben
Interview mit Stefan Kalmár und Daniel Pies


Seit Beginn des Jahres sind Stefan Kalmár (1970) und Daniel Pies (1971) für das Programm des Kunstvereins München verantwortlich. Beide studierten Kulturwissenschaften an der Universität Hildesheim und am Goldsmiths College in London. Stefan Kalmár, der die Position des Direktors einnimmt, war unter anderem künstlerischer Leiter der Cubitt Gallery, London und danach Direktor des Institute of Visual Culture, Cambridge. Daniel Pies, der die neu geschaffene Stelle eines Kurators für Theorie, Vermittlung und Publikation besetzt, arbeitete als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim. Außerdem ist er als freier Autor und Übersetzer tätig. Michael Hauffen sprach mit ihnen über ihre Form der Zusammenarbeit, über langfristige Strategien zur Verankerung einer vitalen und reflektierten Kunstszene, sowie über ihre Einschätzung der Kunststadt München.

Michael Hauffen: Wie habt ihr euch kennengelernt? Wie ergab sich die Idee zusammenzuarbeiten?

Stefan Kalmàr: Wir haben uns über das Studium der Kulturwissenschaften in Hildesheim kennengelernt. Der Studiengang dort dürfte nach wie vor in Deutschland einer der innovativsten sein, was die Komplexität und Verschränkung verschiedener Medien- und Kunstwissenschaften betrifft. Kulturell bildete diese Stadt dagegen ein völliges Vakuum, aber es gab aus den Kreisen der Studierenden einige Leute, die aktiv eigene Foren und eigene Produktionen gegründet haben.

Daniel Pies: Das Paradox von Hildesheim war damals, Mitte der Neunziger, dass hier wirklich die einzige Universität war, die einen interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Studiengang angeboten hat, der sich zumindest halbwegs an den angloamerikanischen Standards der Visual Studies oder Cultural Studies orientiert hat. Der Ort stellte dagegen eine völlige kulturelle Diaspora dar. Daraus haben sich bestimmte Formen der Zusammenarbeit ergeben – zunächst einfach aus der Notwendigkeit heraus, dass man an diesem Ort keinerlei Anbindung an bestehende kulturelle Institutionen haben konnte.
SK: Man musste damals alles selbst machen, was aber vielleicht letztendlich die Qualität des Studiengangs war. Andererseits hat man Vieles nur über Medien wahrgenommen. Das damalige Programm des Münchner Kunstvereins beispielsweise – das glaube ich für fast alle in dieser Gruppe ein wichtiger Referenzpunkt war – hat man immer nur über Publikationen erfahren. Daran konnten sich große Phantasien anschließen, aber man war natürlich auch davon getrennt.

Eine der Ausstellungen, die damals unter Helmut Draxler viel Beachtung gefunden hatten, war Andrea Frazers Arbeit „Eine Gesellschaft des Geschmacks”. Kunst wird in dieser Installation sozusagen als bloßer Schauplatz von gut versteckten Kämpfen um persönliche Vorteile enttarnt. Haltet ihr dennoch an Kunst fest, und mit Hinblick auf welche Erfahrungen oder Erwartungen?

SK: In einer Welt, die zunehmend vom Effizienzgedanken beherrscht wird, wächst auch die Verantwortung, den Freiraum, den Kunstinstitutionen darstellen, zu verteidigen. Auf der anderen Seite sehe ich derzeit die Gefahr einer Art von Diskursformalismus, die oft bestimmte Entwicklungen hemmt oder sogar erstickt, und womöglich sogar jenem Effizienzdenken zuarbeitet.

DP: Von der damaligen Entwicklung einer Politisierung des künstlerischen Raums, die damals unter „Kontextkunst” lief, und die mit der Zeit entweder in eine Schleife der Selbstreferenzialität oder in eine völlige Aufgabe des Kunstbereiches gemündet ist, unterscheiden wir uns aber nicht durch den Verzicht auf Reflexivität, sondern durch ein größeres Vertrauen in die künstlerische Setzung.

SK: Und wir haben jetzt die Möglichkeit solche Positionen, wie die von Andrea Frazer auf institutionelle Strukturen anzuwenden. Wenn ich heute mit einem Vorstand oder der Architektur einer Institution umgehe, dann kann ich die ganzen Kritiken der frühen Neunziger konkret auf mein Handeln als Direktor beziehen. Die damalige Kritik ist extrem wichtig gewesen, weil sie direkt mein Handeln beeinflusst hat.
Die große Qualität der Arbeiten, die uns interessieren, besteht vielleicht darin, dass sie nicht zu hundert Prozent wissenschaftlich konsolidiert sind, sowie in ihrer Hybridität, und vielleicht auch in ihrer Uneffizienz. Im Englischen gäbe es da den schönen Begriff der Obliqueness. Das heißt, es ist nicht alles eindeutig, und diese Uneindeutigkeit regt zu einer Neuverortung des eigenen Denkens an.
DP: Kunst wäre so gesehen das Gegenteil einer zielgerichteten Praxis. Und das Potential von Kunst läge darin, einen Umweg des Denkens oder der Erfahrung gehen zu wollen.

SK: Man muss hierbei allerdings vorsichtig sein. Denn man landet mit einer solchen Argumentation leicht bei dem, was jetzt zum Beispiel bei einer Berliner oder Leipziger Malerei stattfindet. Das liegt mir ganz fern. Aber auf der anderen Seite liegt mir auch fern, so einer romantischen oder ganz individualistischen Haltung stattzugeben, also etwa dass Kunst gar nichts zu bedeuten hat. Ich glaube übrigens, auch Andrea Frazer würde heute so eine Ausstellung wie damals nicht mehr machen. Pauschal gesagt: Kunst funktioniert dann, wenn es eine Differenz zur Realität gibt, und die Institution diese verteidigt. Aber das wäre auch wiederum kein Dogma.

Ihr habt angekündigt, neben der künstlerischen auch kuratorische Innovation in den Mittelpunkt eurer Arbeit zu stellen. Welcher Art wird dieses kuratorisch Neue im Münchner Kunstverein sein?

SK: Vor allem geht es darum, dass es eine Art Tandemkonstellation der künstlerischen Leitung gibt. Ähnlich wie das Verhältnis von Regisseur und Dramaturg beim Theater. Bestimmte Thematiken und Ausstellungen sollen einerseits entwickelt werden, und andererseits sollen die Wichtigkeit und die Bezüge dieser Ausstellungen zu gegenwärtigen Diskursen herausgestellt werden. Ein starker Schwerpunkt liegt also in der Vermittlungsarbeit. Wir sind praktisch der erste Kunstverein, der eine Stelle für Kunstvermittlung, also für Veranstaltung von Symposien, Theorievermittlung und Publikationen geschaffen hat. Das gab es vorher nicht, und meines Wissens gibt es sonst keinen Kunstverein in Deutschland, der so eine Stelle hat. Und außerdem könnte man sagen, dass wir die nächsten drei Jahre als ein großes Ausstellungsprojekt betrachten, in dem es verschiedene thematische Schwerpunkte, Fokusse und so weiter gibt.

DP: Das wäre vielleicht der springende Punkt bei den von uns geplanten Themenbögen, dass es sozusagen nicht immer, Ausstellung für Ausstellung, „Spot on” heißt; sondern die Idee unseres übergreifenden Projekts liegt darin, klar werden zu lassen, dass es nicht nur Differenzen, sondern auch Zusammenhänge zwischen den einzelnen Ausstellungsprojekten gibt, die sich jeweils über ein Jahr hinweg artikulieren. Die Ausstellungen sind also nicht abgeschlossen.

SK: Und die Ausstellungen sind innerhalb dieser Thematik sehr verschieden; es geht jeweils um eine Thematik, die relativ weit gefasst ist. Sie ist kein enges Korsett. Anhand von Einzelpositionen und Gruppenausstellungen werden ganz spezifische Punkte von Geschichtsentwicklung, Geschichtsschreibung und Geschichtsaufarbeitung aufzuzeigen sein. Und in den Zwischenräumen, sowohl zeitlich, als auch zwischen den verschiedenen Formaten, werden bestimmte Stränge vertieft. Wir streben also an, neben dem Format der Ausstellung Publikationen, Vorträge, Symposien, Musikveranstaltungen, etc. als gleichwertig zu behandeln. Daher ist es uns auch wichtig, zwischen den Ausstellungen den Raum komplett leer zu haben.

DP: Diese Zwischenräume wären auch der Ort, wo wir in der Planung etwas flexibler wären. Das sind nicht solche Großprojekte, die langfristig finanziert werden müssen, sondern eher punktueller.

SK: Es gibt zum Beispiel den Plan für ein Konzert mit drei Elektromusikern, die parallel jeweils einen eigenen Raum einen ganzen Tag lang bespielen.
MH: Ihr betont die Bedeutung von Vermittlung. Welche Strategien sind euch dabei wichtig?

DP: Den Vermittlungsbegriff würde ich wirklich sehr weit fassen. Zu ihr rechne ich etwa auch die Veranstaltung von Konferenzen. Beginnen wird dieser Bereich mit dem Thema „Neue Topografien der Moderne”. Zum Teil wollen wir aber auch ganz klassische Vermittlungsformate wieder bedienen. Wir wollen Führungen anbieten, mit Schulen, Hochschulen und Firmen in München zusammenarbeiten. Wir haben zwar nicht die Kapazitäten, ein echtes pädagogisches Programm zu realisieren, aber eine Möglichkeit wäre es zumindest, die Kunstlehrer, die hier in München arbeiten, einzuladen, ihren Schülern die Ausstellungen zu vermitteln. also aktiv das Angebot machen, dass die mit ihren Schulklassen hier vorbeikommen.

Eure erste Ausstellung nennt sich „Icestorm”. Ihr übernehmt damit den Titel eines bekannten Films von Ang Lee. Was ist das Thema?

DP: Der Film legt eine Zeitschneise, die den Umschlag einer Utopie der Befreiung vom sozialen Zwang, und das Scheitern dieser Utopie aufzeigt. Davon ausgehend könnte man sagen, dass diese Schwelle, wo ein emanzipatorisches Denken zu Grabe getragen worden ist, in der Ausstellung wieder aufgeführt wird. Durch die Wiederaufführung soll die Möglichkeit zu einem intensiven Nachfragen danach gegeben werden, was damals verloren gegangen ist. Der Punkt ist also vor allem, dass man sich mit dem Verlust dieses emanzipatorischen Denkens nicht einfach zufrieden gibt.

Kann man denn benennen, was da verloren gegangen ist?

DP: Verloren gegangen ist der Versuch über die unmittelbaren sozialen Nahverhältnisse hinauszudenken,

SK: Und ich glaube so ein Gedanke von Kollektivität, und die starke Individualisierung von allen Gesellschaftsbereichen, inklusive Familie.

DP: Wobei die Schwierigkeit ja wirklich die einer Neubefragung dieses Verlusts ist. Man kann sich nicht Kollektivität als unproblematischen positiven Begriff wieder herbeiwünschen.

SK: Es ist wichtig aufzuzeigen, dass es bestimmte Bestrebungen in Nordamerika oder Großbritannien gibt, die den Begriff des Kollektivs konservativ besetzen. Wobei sie sich durchaus die soziologischen und politischen Errungenschaften der 68er oder 70er in ihr neokonservatives Glaubensmuster strategisch einverleiben konnten.

DP: Das wäre vielleicht genau der Punkt: Was jetzt als neokonservatives Amerika herrscht, hat exakt diesen Verlust vorangetrieben und diese Schwelle stillgestellt, und tritt nun mit seinem kollektiven Denken wieder an, das sich in seiner totalitären Struktur in nichts von dem unterscheidet, was zuvor bekämpft wurde

SK: Man könnte sogar überspitzt sagen: Foucault lesen, heißt ja nicht gleich, links sein. Man kann sich vorstellen, dass Leute, die sich im Beraterkreis von Bush befinden, nicht auf den Kopf gefallen sind, und dass sie die Geheimwissenschaften der ehemals Linken sehr genau studiert haben. Und es ist vielleicht genau das Problem von linker Theorie, dass sie sich vor neokonservativen Übergriffen nicht wirklich schützen kann.

Auf der Seite der Kunst stellt sich ja eine ganz ähnliche Frage. Kann sich Kunst gegen ihre Vereinnahmung schützen?

SK: Auf der institutionellen Ebene kann man im Rahmen der Infrastruktur dafür sorgen, dass diese vereinnahmenden Einflüsse kontrolliert werden. Es wäre sicherlich falsch zu behaupten, dass es sie nicht gibt, etwa auch in Bezug auf die Thematik der Sponsoren. Wir sehen es in diesem Sinn als unsere Aufgabe an, äußere Einflüsse auf Programmatiken und Bedeutungen gering zu halten, sowie auch Gegeneinflüsse geltend zu machen.

DP: Die Kunst kann sich aber genauso wenig vor falschen Freunden schützen, wie das auch Individuen nirgends können. Es gibt keinen prinzipiellen Riegel gegen Vereinnahmung.

SK: Unsere Strategie wird vor allem sein, dass wir als Kunstverein ein soziales Gefüge etablieren, das sich nicht so leicht vereinnahmen lässt. Von der Idee der prinzipiellen Autonomie muss man sich sicherlich verabschieden. Es gibt nur mehr oder weniger starke Abhängigkeitsverhältnisse, und es geht darum, diese zu befragen und gering zu halten.

MH: Blumenbar nennt sich ein junger Münchner Verlag, der vor allem durch seine Organisation ungewöhnlicher Events von sich reden machen konnte. Ihr konntet sie als Partner und Betreiber für die Lobby gewinnen. Was erhofft ihr euch davon?

SK: Das ist eingebettet in ein größeres Konzept, dass man sagt, man stellt jeweils für ein Jahr einer lokalen Organisation unsere Lobby als Produktions-, Präsentations-, und Veranstaltungsplattform zur Verfügung. Das werden Organisationen sein, bei denen wir uns auf der Ebene der Zusammenarbeit Synergien erhoffen, nicht nur in Bezug auf gemeinsame Projekte, sondern auch was neue Besucher angeht. Das könnten zum Beispiel Schriftsteller sein, die sich bisher noch wenig mit aktueller Kunst eingelassen haben, oder auch ganz einfache Barbesucher, die so den Weg zu uns finden.

DP: Es geht um eine Form der Zusammenarbeit mit lokalen Produzenten, die nicht punktuell ist, die also nicht nur auf den momentanen Ausstellungsbetrieb zugeschnitten ist, sondern die wirklich nachhaltig und längerfristiger wirkt. Dadurch wird also eine neue, eigenständige Produktionsplattform geschaffen.

SK: Möglicherweise werden wir die Blumenbar als Verlag für unsere Publikationen nutzen. Aber es hat auch eine ganz pragmatische Seite. Im Gegenzug dafür, dass wir diesen Kooperationspartnern unsere Lobby überlassen, verlangen wir beispielsweise, dass sie für uns die Eintrittskarten verkaufen und den Kaffeebetrieb besorgen.

Wo liegen aus eurer Sicht die institutionellen oder thematischen Defizite der Kunststadt München, soweit ihr euch davon bereits ein Bild machen konntet? Habt ihr vielleicht auch eine Vorstellung davon, was in eurem neuen Umfeld noch fehlt, wofür aber Interesse vorhanden wäre?

SK: Es gibt hier mit Susanne Gaensheimer im Lenbachhaus eine sehr gute Sammlung, die gute Ausstellungen macht; es gibt mit Chris Dercon im Haus der Kunst jetzt jemanden, der internationale Positionen in großer Form hier vorstellt – auch zum Beispiel schwierige Positionen, wie Occupying Space, die Sammlung der Generali Foundation; es gibt mit Bernhard Schwenk jemanden in der Pinakothek, der für eine bayrische staatliche Einrichtung ein sehr gewagtes Programm macht; aber es gibt keinen Ort im Rahmen dieser größeren Institutionen, der auch diskursiv arbeitet, der an Begrifflichkeiten arbeitet, und an einer ständigen Weiterentwicklung künstlerischer und kuratorischer Praktiken interessiert ist – und dafür auch ein Forum, sowohl für das lokal professionelle, als auch für das Akademiepublikum darstellt.

DP: Und vielleicht ist es auch die Chance in München, wie wir es mit der Blumenbar machen wollen, oder auch mit „lives and works in Munich”, dass der Kunstverein eine Institution ist, die etwas nachhaltiger als derzeit das Lenbachhaus mit „Favoriten” oder das Haus der Kunst mit Florian Süssmayr, mit der Münchner Kunst- und Kulturszene kooperieren und interagieren kann.

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Michael Hauffen

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