Kunstverein München2. Juni bis 30. September 2007
erschienen 2007 in springerin
Im Unterschied zu seinen Retrospektiven in den USA beschränkt sich Wolfgang Tillmans im Münchner Kunstverein auf wenige Themen, die man vielleicht grob zwei Polen zuordnen kann: zum Einen das einzelne Individuum und sein Körper, über den wir ihm nahe kommen, aber auch Gewalt ausüben können, zum Anderen die Reflexion des Mediums Fotografie, dessen Möglichkeiten vom Künstler reflexiv und offensiv gegen den Mainstream, beziehungsweise für einen kritischen Lebensentwurf eingesetzt werden. Trotz der Vielfalt von Motiven, die man aus Tillmans fotografischem Werk kennt, scheint es ihm schon immer um eine hinter der sichtbaren Situation liegende tiefere Fragestellung zu gehen. Hier in der Ausstellung wird die Konzentration auf das Wesentliche noch gesteigert durch die Beschränkung auf nur wenige großformatige Arbeiten, die wie Eckpfeiler einen unorthodoxen Kosmos markieren. Auf diese Weise erhält man die Chance, sich aktiv mitten in die Problemstellungen zu versetzen, die den Künstler nicht in Ruhe lassen. Dabei liegt keineswegs alles klar auf der Hand. Gerade die dunklen Windungen unserer von ödipaler Logik beherrschten Existenz blendet Tillmans keineswegs aus. Und auch darüber hinaus bleibt reichlich Spielraum, die intendierten Wirkungen zu erraten beziehungsweise eigene Interpretationen aktiv zu generieren.Aber die Vorgaben gehen jedenfalls unter die Haut. Das beginnt schon mit der ersten Arbeit, auf die der Blick unweigerlich fällt, sobald man die Räume betritt: der extrem vergrößerten Ansicht eines weiblichen Unterleibs, dessen Zentrum die unverhüllte Vagina bildet. Damit ist ein Grundton angeschlagen, der auch bei den folgenden Motiven eine "neutrale" Lesart blockiert. Auf eine monochrome dunkelgrüne Fläche lassen sich danach beispielsweise die geheimen Wünsche projizieren, die trotz aller Bekenntnisse zur Offenheit, stumm zu bleiben pflegen. Elemente abstrakter Bildsprachen nimmt Tillmans auch in seinen äußerst dekorativen Arbeiten aus der Serie "Freischwimmer" auf. Genauer betrachtet wirken die zittrigen dunklen Schlieren vor leuchtenden weißen, roten und grünen Hintergründen jedoch auf eine subtile Weise schockierend. Sie geben ihren Ursprung nicht preis und provozieren daher nur Ahnungen von dem, was jenseits des Angenehmen liegt. In einem Arrangement von Buchseiten, Zeitungsausschnitten und weiteren Fotografien, die auf Tischen ausgebreitet liegen, werden die verdrängten Inhalte, um die es geht, deutlicher angesprochen. Abbildungen von Kriegsverletzungen brechen mit dem Tabu des sauberen Krieges. Analog dazu wird die Frage nach den Möglichkeiten der Religion auf neue Art gestellt, wenn Tillmans Texte von Krishnamurti sowie eine feministische Kritik am unterstellten Geschlecht Gottes mit Aufnahmen von christlichen und islamischen Kirchenbauten konfrontiert. Auch wenn man weiß, dass Tillmans das Ausstellungsprojekt im Kunstverein München in Zusammenhang mit dem zehnten Todestag seines Freundes Jochen Klein wichtig war, ist das Resultat das genaue Gegenteil einer artistischen Selbstinszenierung. Tillmans stellt ein Weltbild mit Anspruch auf Allgemeinheit vor, indem er mit großer Präzision genau solche Sujets aufgreift, die in den gängigen Klischees fehlen, und damit deren Unvollständigkeit deutlich machen.In diesem Sinne übernimmt er auch Motive, die in der Malerei über eine lange Tradition verfügen, ins Medium der Fotografie. Etwa das der überreifen Früchte, die auf dem Rasen liegen geblieben sind, oder wenn hier unter dem Titel „Anders pulling a splinter from his foot” die gekrümmte Körperhaltung eines Mannes ihre symbolische Wirkungen entfaltet. Entsprechendes gilt für viele der gezeigten Motive. Kleidungsstücke, die Spuren eines Lebens aufweisen, das sich nicht immer an die offiziellen Normen hält, wie etwa im Fall des spermabefleckten T-Shirts, das auf einen Vorgang verweist, der als "Sportflecken" nur ironisch geleugnet wird. Das eingangs erwähnte Motiv der Vagina übertrifft das Courbetsche Vorbild womöglich an Drastik, reiht sich aber nicht in zeitgenössische Formen skandalöser Berechnung ein, sondern bleibt der Art von philosophischem Realismus treu, die auch Courbets Malerfreund Wilhelm Leibl pflegte, der hier ebenfalls mit einem in Schwarz-Weiß wiedergegebenen Portrait eines Jungen vertreten ist. Das Video „Lights” reduziert die Sphäre einer Disco auf Elemente der Lightshow, die sich im Rhythmus der unterlegten Musik bewegen. Trotz der Unerbittlichkeit, mit der sie ihr Programm ausführen, können diese maschinell gesteuerten Lichtstrahlen wie liebenswerte Wesen erfahren werden, weil sie einen Ort gemeinschaftlicher Überschreitung rahmen, und zum Gelingen nächtlicher Abenteuer beitragen. Auch die Disco wird also nicht empirisch dokumentiert, sondern als Foucaultsche Heterotopie, als real-existierendes Modell einer abweichenden Ordnung vergegenwärtigt.
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