HKW23. Oktober – 30. Dezember 2022
erschienen 2022 in KUNSTFORUM
Postkoloniale Aufklärung bedeutet einerseits, die vielfältigen Formen der Ausbeutung (von nackter Gewalt bis zu psychischer Traumatisierung) zu erkennen, andererseits aber auch Widerstandspotentiale zu erkunden. Für die Verbindung von Kapitalismuskritik und Rekonstruktion selbstbewusster Identität werden hier Konzepte der jamaikanischen Theoretikerin Sylvia Wynter herangezogen. Ausgangspunkt ist ein anonymes Gemäldes aus Äthiopien, das die Krönung des Kaisers Haile Selassie durch eine Versammlung von Tieren symbolisiert, und in codierter Form auf ein komplexes Verständnis von Kultur verweist, das unter anderem nichtkanonische Einflüsse jüdischer und frühchristlicher Quellen enthält. Für die Verbindung von Anschaulichkeit und kulturellem Selbstverständnis kommen in der Ausstellung vor allem einschlägige künstlerische Arbeiten zum Einsatz, die mit der Aufgabe, zwischen analytischer Schärfe, faktischer Dokumentation und bildnerischer Manifestation zu vermitteln, allerdings oft auch überfordert sind. In der dunkel gehaltenen Ausstellungshalle, unterteilt in kleine Areale mit vielen Nischen und Ecken, finden wir hier ein Video mit einer Voodoo-Aktivistin (Gaëlle Choisne), dort große, trotzig-naiv wirkende Filzstiftzeichnungen von Militärkapellen (Depper Bruce Lafitte) oder hier verfremdete Filmdokumente von Mussolinis Antikenkult und dort ein Video neben einem Bilderatlas, die Materialien zum kolonialen Rassismus und der parallelen Transformation christlicher Theologie als integralen Bestandteil kapitalistischer Verdrängung versammeln (Pauline Curnier Jardin und Alice Creischer / Andreas Siekmann). Zahlreiche Werke aus allen Teilen der Welt knüpfen an traditionelle Kultgegenstände an, wobei die Inklusion weiblicher Perspektiven deutlichen Vorrang hat. Insgesamt wären fünfzig verschiedene Ansätze zu nennen, die sich an dominanten Sichtweisen und den in ihnen enthaltenen Spuren elitärer, rassistischer und genderspezifischer Ideologeme abarbeiten, indem sie ihnen eine kritische Lesart oder alternative Glaubenssysteme gegenüberstellen. Auch die Präsentation der verschiedenen Exponate ist durchweg heterogen. Hier ein kleiner Screen, dort ein Ensemble grob geschnitzter Holzfiguren, hier eine Weltkarte, die sich wie die Schale einer spiralförmig geschälten Frucht als 30 Meter lange Schlange über mehrere Wände und den Boden zieht, dort eine Ecke mit einer aufwendigen Diaprojektion und ihrer geräuschvollen Mechanik (Stan Douglas), weiter hinten historisch avantgardistische Musik von Karl-Heinz Stockhausen aus einem kleinen Lautsprecher. Es ist, als ob das Haus der Kulturen der Welt noch einmal einer globalen Vielfalt ein Zuhause geben wollte, als einem Ort, an dem die Brutalität der Geschichte durch emotionale Wärme gemildert wird. Ein ideelles Zentrum bildet die Arbeit von Jane Jin Kaisen, die der Ausstellung auch den Titel gegeben hat, ein südkoreanisches Video, in dem eine feierlich gekleidete Gruppe die Befreiung vom Kapitalismus als ästhetische Performance zelebriert. Mit einem übergroßen Sarg zunächst langsam durch eine Bauruine schreitend, gehen die Akteur*innen zunehmend in eine kollektive Katharsis über und befreien sich schließlich von der Last. Wenn der Kapitalismus als eindeutig absurde Monstrosität erkannt wird, so die Hoffnung, dann genügt dieser letzte Kick, um seinen tödlichen Wiederholungszwang zu beenden. Die Konzentration auf ein »Third Event« (Sylvia Wynter), auf eine kulturelle Grundlegung, die es widerständigen Gruppen egal welcher Herkunft ermöglichen soll, von einer gefühlsstarken und selbstbewussten Basis aus die Herrschaft repressiver Strukturen zu überwinden, droht ja häufig in stark vereinfachende, allzu träumerische Vorstellungen zu kippen. Andererseits wird anhand der Vielfalt der Geschichten auch deutlich, dass die schwierige Frage einer allgemein verbindenden Idee, einer übergreifenden Strategie beantwortet werden müsste, wenn Zeremonien mehr sein sollen als systemstabilisierende Kompensation. Wäre etwa eine kritische Religiosität, ein egalitärer Mythos, eine wirklich universelle Zeremonie denkbar? Solche Fragen wirft die Ausstellung eher auf, als sie zu vertiefen. So führt die Suche nach befreienden Zeremonien am Ende doch wieder zur Suche nach guter Kunst und zu den Ritualen ihrer Kritik, mit der abstrakten Herausforderung, ihre bürgerliche Form aufzuheben. Raimond Boisjoly antwortet darauf etwa in einer Geste bewusster Negation. Er lässt seine Zugehörigkeit zur First Nation ganz beiseite und platziert stattdessen nur das Wort DISHARM-ONIOUS auf ein wandfüllendes, aber lückenhaftes Patchwork aus leeren Rechtecken. Damit bringt er nicht nur seine Ablehnung rein symbolischer Inklusion zum Ausdruck; anstatt auf mythische Autorität setzt er offenbar darauf, in den disparaten Grundlagen unserer Realität die Chance für einen radikalen Neuanfang zu erkennen – dafür genug andere zu begeistern, wird allerdings noch Zeit brauchen
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