Kunstverein München4. Februar bis 29. März 1998
erschienen 1998 in KUNSTFORUM
Dokumentarische Fotografie läßt sich nicht unabhängig von Wissen und Intention des fotografierenden Subjekts verstehen. Vor allem angesichts einer Wirklichkeit, die mehr und mehr dazu neigt, in der Form bewußt täuschender Fassaden aufzutreten, hängt der Informationsgehalt des Dokuments vom Grad kritischer Reflexion ab, mit dem es ausgewählt wird. In der Concept Art wurde dieser Zusammenhang von Bild und Theorie beispielhaft selbstbewußt formuliert und schließlich um die Thematik der semiotischen und institutionellen Kontexte erweitert.Allan Sekula hat von Anfang an versucht, hinter die Fassaden zu blicken. In einer frühen Serie von 25 Fotos geht es um die Darstellung von Arbeitern eines kalifornischen Raumfahrtkonzerns. Den herrschenden Klischees von deren Existenz sollten Bilder kollektiver Bewegung entgegengesetzt werden. Es gelang ihm durch Aufnahmen, die die Menschen beim Verlassen ihrer Arbeitsstätte durch das einzige Fabriktor zeigen, und er betonte diese Dynamik noch durch die Präsentation der Serie in einer fortlaufenden Diaprojektion.Ähnlich zurückhaltend in Bezug auf spektakuläre Effekte gibt sich auch die Dokumentation eines anderen Schauplatzes: des elterlichen Hauses, in dem der Künstler aufgewachsen ist. Man sieht Bilder vom Gebäude und aus dem Alltag dieser Mittelstandsfamilie und erfährt etwas über die räumliche, soziale und ökonomische Umwelt, wobei erklärende Legenden, kurze Sätze, die neben den Fotos gleichwertig behandelt werden, eine zwischen Erläuterung und Vertiefung balanzierende Rolle spielen. Der erste Eindruck von den frühen Arbeiten des damals gerade 22jährigen trügt nicht: die Vorgehensweise Sekulas ist gekennzeichnet durch einen entschiedenen Verzicht auf jede Form von demonstrativem Anarchismus. Aber auch in diesem klaren Bekenntnis zu einer Fotografie, die sich ihrer Umgebung eher bescheiden und von unten nähert, handelt es sich allemal um eine Form von Protest. Verweigert wird die obligatorische Selbstdarstellung des Mittelstandes mit seiner Idealisierung der Normen, denen man sich hoffnungsvoll unterwirft, orientiert an den durchschnittlichen Träumen von Partizipation an der Macht. Mangels Ähnlichkeit mit den Hollywood-Klischees mag man hierzulande sogar in Zweifel darüber geraten, ob diese Aufnahmen tatsächlich alle in Kalifornien gemacht wurden. Aber es geht Sekula weniger darum konsumistische Erwartungen auf Traumbilder zu frustrieren, als vielmehr hinter dem Grau der unattraktiven Existenz nach den lebendigen Potentialen zu suchen. Die Gegenwart von sozialer Normierung und atomarer Bedrohung, wie sie sich 1972/73, als die beiden Arbeiten entstanden, dargestellt hat, wird vom Fotografen relativiert durch die Darstellung verstreuter produktiver Fähigkeiten vom Facharbeitertum bis hin zur Ausgestaltung und Reproduktion des eigenen Lebens, die etwa dahin führen, daß der Vater seine Kinder ermuntert, ihren Horizont durch Literatur zu erweitern, während er selbst sich mit den Wirkungen nuklearer Waffen auseinanderzusetzen beginnt, an deren Produktion er beteiligt ist. (Später wird Sekula die Arbeit noch erweitern um akustisch übermittelte Berichte der dargestellten Personen zur Veränderung dieser Lebensumstände, die durch die Arbeitslosigkeit des Geldverdieners eingetreten ist.)Das Elend der Welt scheint Sekula in seiner bohrenden Neugier nicht bremsen zu können. Und so steht er auch nicht unter dem Zwang das allgegenwärtige Spießertum in der umgekehrten Form spektakulärer Hysterie bestätigen zu müssen. Wo findet man aber den offenen Horizont, dem sich diese Gesellschaft einhellig zu verschließen scheint? Wie Sekula während langer Jahre, die er in Hafenstädten und auf See verbrachte, feststellen konnte, ist auch die Schiffahrt heute kein Raum für Abenteuer mehr. Eine vormals radikal andere soziale Struktur, die etwa Michel Foucault dazu führte, Schiffe als „Heterotopien” zu beschreiben, ist inzwischen zu einem computergesteuerten Transportsystem mutiert, und die Romantik überlebt höchstens verzerrt zu touristischen Simulationen. Sekulas umfangreiche Dokumentation darüber wurde unter dem Titel „Fish Story” bekannt. Seiner jüngste Arbeit „Dead Letter Office” knüpft ein weiteres Geflecht von Beobachtungen daran an. Die eher schnappschußartigen Farbfotografien konfrontieren direkt mit dem Elend, das die profitgesteuerte Logistik an seinen Rändern hinterläßt. Seien es Hilfsarbeiter, die die Kofferberge einer „Carnival Cruise Line” umladen oder die Arbeiterin einer Thunfischfabrik bei ihrer Tätigkeit am Konservenfließband – sie sind jedenfalls keine Illusion. Und sie verweisen auf eine ökonomische Realität, die im Zuge von Deregulierung und Globalisierung der Arbeitsmärkte immer krassere Verhältnisse hervorbringt. Die Region um San Diego mit ihrem unterdrückten mexikanischen Teil namens Tijuana kann als Prototyp zeitgemäßer Strategien des Kapitals gelesen werden. Um von dieser Komplexität etwas zur Darstellung zu bringen, ist es erforderlich, die Details in einen dichten Zusammenhang zu versetzen. Sekula nennt seine hierbei bevorzugte Form die Sequenz. Im Gegensatz zur Serie hat diese eine eher geschlossene Form. Wie in einem poetischen Text umkreisen die einzelnen Bilder die Thematik. Überlagerungen verschiedenster Sinnschichten erlauben die Fokussierung komplexer Verhältnisse.Beispielsweise wurde die Produktion des Hollywood-Spektakels „Titanic” auf die südkalifornische Halbinsel „Baja California” ausgelagert, so daß nun Menschen, die in Baracken leben, vor der Kulisse des vielleicht bedeutendsten Symbols der Abgründigkeit dieser modernen Weltordnung ihre selbstgefangenen Muscheln braten. Neben Hollywood-Produktionen werden auch Container-Fabriken in diesen politisch schwächeren Raum billiger Arbeitskräfte ausgelagert, und die Republikanische Partei erwägt sogar, aus diesem Bereich militärische Produkte zu importieren. Bilder von einem republikanischen Parteitag in San Diego, werfen ein Licht in dessen starres Innenleben, konterkariert durch den einzigen Obdachlosen, der in der hierfür geschaffenen Schutzzone kurioserweise zurückgeblieben ist. Aber auch die Realität der kulturellen Abgründe zwischen der spanischen und der nordamerikanischen Welt bezieht die Sequenz ein, und steuert dazu ein Detail bei, das in der Lage ist, die ganze Tiefe der gegenseitigen Fremdheit zweier Welten fühlen zu lassen: In der Werkstatt eines mexikanischen Sargmachers, der – wie Sekula berichtet – sich allzu bewußt war, daß er mit seiner Profession Grund zum Optimismus haben darf, sind die Wände ausschließlich mit großen Pin-ups tapeziert. Diesem Gelächter scheint sich Sekula keineswegs zu verschließen, und vielleicht merkt man es den Aufnahmen des vorgeblichen Reporters sogar noch an, wenn er kurz danach auf der anderen Seite des „dreifachen Zaunes” eines der vielen demonstrativen Manöver von U.S.Marines knipst. Sekula interessiert sich für das Schicksal der Welt, in der wir leben, mehr als für seinen Marktwert. Im Zuge dieser Neugier hat er sich auch als Theoretiker einen Namen gemacht. Trotzdem ist sein fotografisches Werk alles andere als eine Illustration von fertigen Überzeugungen. Die Aufmerksamkeit, die er dem sinnlichen Moment widmet, wird vielleicht dort am klarsten, wo er sich zum Verhältnis von Bildsprache und Wortsprache äußert, bzw. wenn er damit äußerst behutsam umgeht. Die Grenzen werden fließend, aber nicht um den Preis einer gewaltsamen Vereinfachung; weshalb einer ästhetischen Kultur, die in spaßhafter Simplifizierung zu erstarren droht, mehr KünstlerInnen dieser Art dringend zu wünschen wären.
->Liste alle Texte
derzeit noch nicht aktiv, bitte versuchen Sie es später wieder